Abschlussbericht: Evaluation der Kontaktverbotsverordnung St. Georg

Im November 2018 erteilte die Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) der Freien und Hansestadt Hamburg dem Deutschen Institut für Sozialwirtschaft e.V. (DISW) den „Auftrag zur Durchführung einer wissenschaftlichen Evaluation der Verordnung über das Verbot der Kontaktaufnahme zu Personen zur Vereinbarung entgeltlicher sexueller Dienstleistungen im Sperrgebiet (kurz: KontaktverbotsVO vom 24. Februar 2012, HmbGVBl, 24) in St. Georg (vgl. Drs. 21/4048 in der Fassung Drs. 21/5618, Drs. 21/11140)“. Der Zeitraum für das Evaluationsprojekt belief sich auf insgesamt 14 Monate von November 2018 bis Dezember 2019.

Die Evaluation sollte die Fragen beantworten, inwieweit die Ziele der KontaktverbotsVO erreicht wurden, ob und welche Auswirkungen festzustellen und welche Handlungsempfehlungen davon abzuleiten sind. Die Fragen und die Bewertung der Zielerreichung beziehen sich auf einen Gegenstand, der von vielen unterschiedlichen Faktoren beeinflusst wird, die in gegenseitigen Abhängigkeitsbeziehungen zueinanderstehen und in eine komplexe soziale Struktur des Hamburger Stadtteils St. Georg eingebettet sind. Vor diesem Hintergrund können kausale Auswirkungen oder Effekte der KontaktverbotsVO inklusive ihrer Sanktionspotenziale für die Zielerreichung der Verordnung nicht festgestellt werden.


Vorgehensweise

In einem partizipativen Verfahren wurden mit den zuständigen Behörden die Ziele der KontaktverbotsVO konkretisiert und zentrale Indikatoren entwickelt. Wesentlich war hier, dass neben der Zielüberprüfung die Offenheit für ein exploratives Vorgehen im Stadtteil gegeben war. Bereits im Rahmen der Konkretisierung des Forschungsdesigns bestand ein Bewusstsein der Beteiligten über die Komplexität und die vielfältigen Beeinflussungsszenarien der Thematik.

Daran angepasst wurde ein Mixed-Methods-Forschungsdesign gewählt, das sich aus Dokumentenanalysen, empirischen Methoden der Feldbeobachtungen, der qualitativen und quantitativen Sozialforschung sowie Methoden der partizipativen Feldentwicklung zusammensetzt. Dabei wurde Wert gelegt auf eine Integration unterschiedlicher Interessen- und Betroffenengruppen (Sexarbeiter*innen, Kund*innen, Mitarbeitende aus Beratungsstellen, Anwohnende und Vertreter*innen von Initiativen, Polizeidienststellen, Wirtschafter*innen) in die empirische Datenerhebung.

Zentrale Ergebnisse

Es lassen sich marginale Veränderungen der straßenbezogenen Sexarbeit bezüglich der anvisierten Ziele der KontaktverbotsVO konstatieren. Dazu zählen vor allem die hohen Bußgelder sowie zeitweise verstärkten Polizeikontrollen und die Vermutung von Polizeikontrollen, die eine Kontaktanbahnung im öffentlichen Raum kürzer und subtiler, d.h. weniger sichtbar, ablaufen lassen. Zudem steigern beide Aspekte auch das Drohpotenzial für Kunden, da diese ihre Anonymität bei der Nutzung von Sexarbeit verlieren können.

Durch die hohen Bußgelder erhöht sich das Risiko für Sexarbeiter*innen, zunehmend in prekäre Lebenssituationen zu geraten, d.h. ihre Lebenssituation verschlechtert sich. Es besteht außerdem die Gefahr verschärfter Strafen bei wiederholter Ordnungswidrigkeit. Gleichzeitig ist mit der KontaktverbotsVO eine Einschränkung der Verdienstmöglichkeiten gegeben. Zudem führt die zeitweise erhöhte Polizeipräsenz dazu, die Anbahnung schneller in nicht-öffentliche Räume wie Kneipen, Bars und Stundenhotels (Steigen) zu verlagern. Die KontaktverbotsVO trägt also eher zu erhöhten Risiken für die Sexarbeiter*innen bei.

Auch die gesundheitliche Versorgung und der gesundheitliche Schutz der Sexarbeiter*innen verbessern sich nicht. Stattdessen verlagert sich der Fokus der Beratungstätigkeit auf die Bearbeitung von Bußgeldbescheiden und Strafandrohungen.

Für Kunden von Sexarbeit erhöht sich das Risiko der nichtbewussten Ordnungsverfehlung aufgrund der Unkenntnis der KontaktverbotsVO. Im Rahmen der Evaluation zeigte sich, dass die KontaktverbotsVO als Regelungs- und Ordnungsinstrument zwar seit sieben Jahren eingeführt ist, ihr Bekanntheitsgrad aber – vor allem unter potenziellen Kunden – eher gering ist. Die Kundenstruktur hat sich verändert, was jedoch insgesamt eher den Veränderungen – insbesondere durch die erfolgte Zuwanderung – im Viertel zuzuschreiben ist als eindeutig der KontaktverbotsVO. Auch führt dies nicht zu einer Reduktion der straßenbezogenen Sexarbeit.

Des Weiteren sollten Sexarbeiter*innen unter anderem im Stadtteil St. Georg auf öffentlichen Straßen, Wegen, Plätzen und Anlagen sowie an sonstigen Orten, die von dort aus eingesehen werden können, nicht mehr (oder: weniger) der Sexarbeit nachgehen. Dies ist nicht der Fall. Die Kontaktanbahnung zwischen Sexarbeiter*innen und Kunden findet von beiden Seiten nach wie vor in der Öffentlichkeit statt.

Aufgrund der Datenlage lassen sich keine Auswirkungen bezüglich der Lärmbelästigung, der Reduktion von straßenbezogener Sexarbeit, des Sicherheitsgefühls oder des Schutzes von Unbeteiligten feststellen, da diese nicht im direkten Zusammenhang mit der Sexarbeit stehen. Die straßenbezogene Sexarbeit ist weder als Verursacherin noch als relevante Akteurin im Kontext der Störungen zu identifizieren.

Eine geringere Belästigung von Passant*innen durch Kunden bzw. Sexarbeiter*innen als Problemanzeige lässt sich als Auswirkung der KontaktverbotsVO empirisch nicht bestätigen. Die Wahrung des Sicherheitsgefühls und des Schutzbedürfnisses Unbeteiligter im Stadtteil ist bedeutsam. Dies wird allerdings nur in geringem Maß mit straßenbezogener Sexarbeit in Verbindung gebracht.

Ein weiteres Ziel der KontaktverbotsVO bestand darin, den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Beobachtung oder direkter Konfrontation mit Sexarbeit durch die Verordnung zu erhöhen. Die Untersuchungsergebnisse legen die Interpretation nahe, dass Sexarbeit als ein Element der Stadtteilkultur und des öffentlichen Lebens zu betrachten ist. Das Viertel St. Georg rund um den Hansaplatz stellt sich als betriebsam und geschäftig dar, als ein Konglomerat vielfältiger Milieus, mit Menschen unterschiedlichster Herkunft. Die Sexarbeiter*innen fügen sich unauffällig in das alltägliche Treiben in der Öffentlichkeit und in das Stadtbild ein. Weder verhalten noch kleiden sie sich besonders auffallend.

Auch zwischen Gentrifizierung und der KontaktverbotsVO ist kein eindeutiger Zusammenhang herzustellen. Einerseits zeigen sich Neu-Hinzugezogene ebenso kritisch gegenüber Störungen wie Alt-Eingesessene (beide Gruppen bewerten beispielsweise Schmutz und Pöbeleien als besonders störend), andererseits sind zahlreiche Menschen aus beiden Gruppierungen im Stadtteil aktiv.

Vor dem Hintergrund der Datenanalyse und der Kriminalitätsstatistiken kann weder von mehr noch von weniger Straftaten ausgegangen werden. Stattdessen muss hier ein bekannter Zusammenhang angeführt werden, nämlich dass ein verstärkter Polizeieinsatz naturgemäß zur Erhöhung der Anzahl der Ahndung von Delikten führt. Die KontaktverbotsVO fügt den möglichen Ordnungswidrigkeiten eine weitere hinzu, die nun verfolgt werden kann. Ein Einfluss der KontaktverbotsVO auf die Entwicklung von Straftaten kann nicht festgestellt werden.

Die KontaktverbotsVO scheint dagegen vor allem in Teilbereichen der Anwohner*innen Hoffnungen und Erwartungen auf Problemlösungen geweckt zu haben, die in vielerlei Hinsicht enttäuscht wurden, was wiederum entsprechend polarisierte Debatten eher angefacht hat anstatt zu einer Rationalisierung, Deeskalierung und Entstigmatisierung beizutragen.

Kritische Würdigung der Ergebnisse

Durch die Ziel- und Indikatorarbeit mit den Fachbehörden wurde deutlich, dass die Umsetzung der Ziele der KontaktverbotsVO einerseits eingebettet ist in weitere Verordnungen und Regelungen und andererseits lediglich durch eingeschränkte polizeiliche Maßnahmen unterlegt wurde. Anfangs wurde darüber breit medial berichtet und aufgeklärt, jedoch wurde keine weitere fortlaufende Öffentlichkeitsarbeit und Aufklärung der betreffenden Personen durchgeführt.

Die Evaluation kommt zu dem Ergebnis, dass verschärfte ordnungspolitische Maßnahmen weder zum Ziel einer verbesserten Lebenssituation von Sexarbeiter*innen beitragen noch zu einer Verbesserung der Lebensqualität der Anwohner*innen oder zur Reduktion der straßenbezogenen Sexarbeit führen.

Die aus den Ergebnissen abzuleitenden Handlungsempfehlungen beziehen sich im Wesentlichen auf breiter angelegte Aktivitäten der Feldentwicklung im Stadtteil St. Georg, um den drängenden Problemen wirksam zu begegnen.

Handlungsempfehlungen

In den qualitativen Interviews/Gesprächen, den quantitativen Befragungen sowie den Fokusgruppen und Visionswerkstätten wurden Ideen, Lösungen und Handlungsempfehlungen zusammengetragen und diskutiert. Nachfolgend sind diese kurz zusammengefasst:

  • Partizipative (Weiter-)Entwicklung des Viertels zur Schaffung eines sozialen Raumes für alle sich dort aufhaltenden Menschen mithilfe einer unabhängigen, vom Bezirk eingesetzten Moderation.
  • Ermöglichen einer übergreifenden Kommunikation im intersektionalen Sinne, d.h. mit und für sämtliche Beteiligte, so dass die Verantwortung für den Stadtteil nicht allein an die Polizei oder andere, beispielsweise die Soziale Arbeit, delegiert wird.
  • Gemeinsame Diskussion und Aushandlung zentraler Fragen, insbesondere auch im Umgang mit Lärm, Lautstärke und Streitereien, unter Umständen auch mit Mediation.
  • Bekanntmachen bestehender Angebote der Sozialen Arbeit, beispielsweise Straßensozialarbeits-„Laufpläne“ für Anwohnende, um besseren Kontakt und schnelleres professionelles Reagieren zu ermöglichen.
  • Bereitstellen fundierter Informationen zu unterschiedlichen Gruppen, insbesondere den Sexarbeiter*innen, zum Abbau von Stigmatisierungen.
  • Community-orientierte Ansätze und Zusammenarbeit mit entsprechenden Personen oder Gruppen aus den Herkunftsländern, die bereits lange in Hamburg ansässig sind, für eine zur besseren Arbeit mit den genannten Problemgruppen.
  • Ausstattung Sozialer Arbeit mit mehr Handlungsmöglichkeiten, beispielsweise für niedrigschwellige Versorgungsangebote am Wochenende und ganzjährige Schlafangebote.
  • Weitergehende und sozialräumlich orientierte Auseinandersetzung mit Alkohol und Drogen konsumierenden Menschen (beispielsweise die Bereitstellung adäquater Räume, „drink to bring-Kneipe“), da diese Herausforderungen weder durch zeitweise Verdrängungen in andere Stadtteile noch durch polizeiliche oder technisch kontrollierende Maßnahmen zu bewältigen sind.
  • (Weiter-)Entwicklung einer materiell-räumlichen Gestaltung des Hansaplatzes, um auch über eine Raumgestaltung Probleme – vor allem Lärm und Müll – einzuhegen.

Es zeigt sich, dass die Entwicklung des Viertels ein andauernder und fortlaufender Prozess bleibt, bei dem es wesentlich ist, alle potenziell Beteiligten einzubeziehen. Das Ziel könnte sein, eine menschenwürdige Gestaltung für alle aktuellen und neuen Nutzer*innengruppen zu realisieren. Dabei gilt es, die Gestaltungsmacht und Selbstverantwortlichkeit der Bezugsgruppen zu stärken und alle relevanten Gruppen auf Augenhöhe einzubeziehen. Eine zentrale Maßnahme könnte ein Quartiersmanagement sein, das den gesamten Raum statt einzelner Zielgruppen im Blick hat, neutral moderiert und im Zweifelsfall regulierend eingreifen kann.

Den gesamten Bericht können Sie hier herunterladen.

Hier finden Sie die zugehörige Drucksache 21/20314 der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg.